14 Das neunte Kind der Mrs. D.
Das neunte Kind der Mrs. D. heißt James Patrick Pius. An dem Tag, an dem es geboren wurde, wurde Siobhan, das älteste Kind der Mrs. D., ein Mädchen, gerade siebzehn; was aus Siobhan werden soll, ist schon geplant. Sie wird die Post übernehmen: den Klappenschrank bedienen, Gespräche aus Glasgow, London, Liverpool annehmen und vermitteln, Briefmarken verkaufen, Einschreibequittungen ausschreiben und zehnmal soviel Geld auszahlen, als eingezahlt wird: Pfunde aus England, gewechselte Dollars aus Amerika, Kinderzulagen, Prämien für Gälischsprechen, Renten. Sie wird jeden Mittag gegen eins, wenn das Postauto kommt, über einer Kerze den Siegellack erweichen und das große Siegel mit der irischen Leier auf den großen Briefumschlag prägen, der die wichtigsten Sendungen enthält; sie wird nicht — wie es ihr Vater tut — jeden Mittag mit dem Fahrer des Postautos ein Bier trinken, einen kurzen, spröden Schwatz halten, der mehr der Strenge einer Liturgie als der Männergeschwätzigkeit eines Thekengesprächs gleicht. Das also wird Siobhan tun: von morgens acht bis mittags zwei im Postbüro hocken, mit der Gehilfin zusammen, und abends wieder von sechs bis zehn, um den Klappenschrank zu bedienen; es wird ihr Zeit genug bleiben, Zeitung zu lesen, Romane, oder mit dem Fernglas auf die See zu blicken: die blauen Inseln aus zwanzig Kilometern Entfernung auf zweieinhalb heranzuholen, die Badenden am Strand aus fünfhundert Metern Entfernung auf sechzig: schicke Dublinerinnen und altmodische; Bikinis und Großmutters Badeanzug mit Krausen und Schürzen. Aber länger, viel länger als die kurze Badesaison ist die tote, die stille Zeit: Wind, Regen, Wind, nur selten ein Fremder, der eine Fünf-Pence-Briefmarke für einen Brief zum Kontinent kauft, oder gar einer, der Briefe von drei, von vier Unzen Gewicht per Einschreiben in Städte schickt, die München, Köln oder Frankfurt heißen; der sie zwingt, den dicken Posttarif aufzuschlagen und komplizierte Berechnungen anzustellen, oder gar Freunde hat, die sie zwingen, aus dem Code Telegrammtexte zu entziffern, die heißen: »Eile geboten: Stop. Antwortet baldmöglichst.« Wird Siobhan je begreifen, was »baldmöglichst« heißt, ein Wort, das sie so korrekt mit ihrer Jungmädchenschrift aufs Telegrammformular schreibt, wobei sie nur aus dem ö ein oe macht?
Wie dem auch sei: Siobhans Zukunft scheint gesichert, soweit etwas auf dieser Erde zu sichern ist; sicherer noch scheint, daß sie heiraten wird: sie hat Augen wie Vivien Leigh, und oft sitzt abends ein Jüngling mit baumelnden Beinen auf der Posttheke, und es findet einer jener spröden, fast stummen Flirts statt, wie sie nur bei glühender Liebe und fast krankhafter Schüchternheit möglich sind.
»Schönes Wetter, nicht wahr?«
»Ja.«
Schweigen, ein flüchtiges Ansehen, ein Lächeln, viel Schweigen. Siobhan ist froh, daß der Klappenschrank brummt.
»Sprechen Sie noch? Sprechen Sie noch?«
Den Stöpsel herausgezogen; ein Lächeln, ein Ansehen, Schweigen, viel Schweigen.
»Wunderbares Wetter, nicht wahr?«
»Wunderbar.«
Schweigen, ein Lächeln, der Klappenschrank immer wieder als Rettung:
»Here Dukinella, Dukinella here — yes.«
Stöpseln. Schweigen. Lächeln mit den Augen der Vivien Leigh, und der junge Mann, diesmal mit fast brechender Stimme:
»Fabelhaftes Wetter, wie?«
»Ja, fabelhaft.«
Heiraten wird Siobhan, aber den Klappenschrank weiter bedienen, weiter Briefmarken verkaufen, Geld auszahlen und das Petschaft mit der irischen Leier in den weichen Siegellack drücken.
Vielleicht auch wird sie plötzlich der Koller überkommen, wenn der Wind wochenlang weht, wenn die Leute mit ihrem schrägen Gang gegen den Sturm ankämpfen, wenn der Regen wochenlang regnet, das Fernglas den Blick auf die blauen Inseln nicht freigibt und im Nebel der Rauch der Torffeuer tief hängt, dicht und bitter. Wie es auch sein wird, sie kann hierbleiben, und das ist eine unglaubliche Chance: von ihren acht Geschwistern werden nur zwei hierbleiben können; einer kann die kleine Pension übernehmen, und ein zweiter kann dort, wenn er nicht heiratet, mithelfen; zwei Familien ernährt die Pension nicht. Die anderen werden auswandern oder irgendwo im Lande Arbeit suchen müssen; aber wo und wieviel werden sie verdienen? Die wenigen Männer, die ständig hier Arbeit haben, am Hafen, beim Fischfang, beim Torfstechen oder am Strand, wo sie Kies sieben, Sand laden, diese wenigen verdienen fünf bis sieben Pfund die Woche (1 Pfund = 11,60); und wenn man einen eigenen Torfclaim hat, eine Kuh, Hühner, ein Häuschen und Kinder, die helfen, dann kann man davon gerade leben — in England aber verdient ein Arbeiter, wenn er Überstunden macht, wöchentlich zwanzig bis fünfundzwanzig Pfund, und ohne Überstunden mindestens zwölf bis fünfzehn; ein junger Bursche kann also, selbst wenn er zehn Pfund in der Woche für sich verbraucht, in jedem Falle noch zwei bis fünfzehn nach Hause schicken, und es gibt hier so manche Oma, die von diesen zwei Pfund, die ein Sohn oder Enkel schickt, und manche Familie, die von den fünf Pfund, die der Vater schickt, lebt.
Sicher ist, daß von den neun Kindern der Mrs. D. fünf oder sechs werden auswandern müssen. Wird der kleine Pius, der eben von seinem ältesten Bruder geduldig geschaukelt wird, während die Mutter für ihre Pensionsgäste Spiegeleier brät, Marmeladentöpfchen füllt, weißes, braunes Brot schneidet, Tee aufgießt, während sie im Torffeuer Brot bäckt, indem sie den Teig in die Eisenform legt und Torfglut über die Form häuft (es geht übrigens schneller und ist billiger als im elektrischen Herd) — wird dieser kleine Pius in vierzehn Jahren, im Jahre 1970, auch am 1. Oktober oder 1. April, vierzehnjährig, mit seinem Pappkoffer in der Hand, mit Medaillen behangen, mit einem Extrapaket besonders gut belegter Brote, von seiner schluchzenden Mutter umarmt, an der Bushaltestelle stehen, um die große Reise anzutreten, nach Cleveland, Ohio, nach Manchester, Liverpool, London oder Sydney zu irgendeinem Onkel, einem Vetter, einem Bruder vielleicht, der versichert hat, er werde sich um ihn kümmern und etwas für ihn tun?
Diese Abschiede auf irischen Bahnhöfen, an Bushaltestellen mitten im Moor, wenn die Tränen sich mit Regentropfen mischen und der atlantische Wind weht; der Großvater steht dabei, er kennt die Schluchten von Manhattan, kennt die New Yorker Waterfront, er hat dreißig Jahre lang die »Faust im Nacken« gespürt, und er steckt dem Jungen schnell noch eine Pfundnote zu, dem Kahlgeschorenen, noch Rotznäsigen, um den geweint wird, wie Jakob um Josef weinte; vorsichtig hupt der Busfahrer, sehr vorsichtig, aber er, der schon Hunderte, vielleicht Tausende, die er hat aufwachsen sehen, an den Zug gefahren hat, er weiß, daß der Zug nicht wartet und daß ein vollzogener Abschied leichter zu ertragen ist als einer, der noch bevorsteht. Winken, in die Einöde hinein, das kleine weiße Haus im Moor, Tränen mit Rotz gemischt, am Laden vorbei, an der Kneipe, in der Vater abends seinen halben Liter trank; vorbei an der Schule, an der Kirche — ein Kreuzzeichen, auch der Busfahrer macht eins — , der Bus hält; neue Tränen, neuer Abschied; ach, Michael geht auch weg, und Sheila geht; Tränen, Tränen — irische, polnische, armenische Tränen...
Acht Stunden brauchen Bus und Bahn von hier bis Dublin, und was sie aufsammeln, was in überfüllten Zügen auf den Fluren mit Pappkartons, zerbeulten Koffern oder Leinensäcken herumsteht, Mädchen, die noch den Rosenkranz um ihre Hände geschlungen halten, Jungen, in deren Taschen noch die Murmeln klingen — diese Fracht ist nur ein geringer Teil, nur wenige hundert sind es von mehr als vierzigtausend, die in jedem Jahr dieses Land verlassen: Arbeiter und Ärzte, Krankenschwestern, Hausgehilfinnen und Lehrerinnen: irische Tränen, die sich mit polnischen, italienischen mischen werden, in London, Manhattan, Cleveland, Liverpool oder Sydney.
Von den achtzig Kindern, die sonntags in der Messe sind, werden in vierzig Jahren nur noch fünfundvierzig hier leben; diese fünfundvierzig aber werden so viele Kinder haben, daß wieder achtzig Kinder in der Kirche knien werden.
Von den neun Kindern der Mrs. D. werden also sicher vier oder fünf auswandern müssen. Noch wird Pius vom älteren Bruder geschaukelt, während die Mutter Hummer für ihre Gäste in den großen Topf überm Torffeuer wirft; während die Zwiebeln in der Pfanne schmoren und das dampfende Brot auf dem fliesenbelegten Tisch langsam auskühlt; während die See rauscht und Siobhan mit den Augen der Vivien Leigh durchs Fernglas auf die blauen Inseln draußen blickt, Inseln, auf denen bei klarem Wetter noch die kleinen Dörfer zu erkennen sind: Häuser, Scheunen, eine Kirche, deren Turm schon eingestürzt ist. Kein Mensch wohnt mehr dort, keiner. Die Vögel nisten in Wohnstuben, Seehunde faulenzen manchmal am Kai des kleinen Hafens, kreischende Möwen schreien wie verdammte Seelen in den verlassenen Straßen. Es ist ein Vogelparadies, sagen die, die manchmal einen englischen Professor, einen Vogelforscher, hinüberrudern.
»Jetzt kann ich sie sehen«, sagt Siobhan.
»Was?« fragt die Mutter.
»Die Kirche; sie ist ganz weiß, ganz mit Möwen bedeckt.«
»Nimm du mal Pius«, sagt der Bruder, »ich muß melken gehen.«
Siobhan legt das Fernglas aus der Hand, nimmt den Kleinen, wiegt ihn, indem sie summend hin und her geht. Wird sie nach Amerika gehen, Kellnerin werden oder Filmstar, und wird Pius Briefmarken verkaufen, den Klappenschrank bedienen und in zwanzig Jahren mit dem Fernglas auf die verlassene Insel hinausblicken, um festzustellen, daß die Kirche jetzt ganz eingestürzt ist?
Noch hat die Zukunft, haben Abschied und Tränen für die Familie D. nicht begonnen. Noch hat keiner den Pappkoffer packen und die Geduld des Busfahrers beanspruchen müssen, um den Abschied ein wenig zu verlängern, und noch denkt niemand daran, denn die Gegenwart hat hier mehr Gewicht als die Zukunft; doch dieses Übergewicht, dessen Folge Improvisation an Stelle der Planung ist, dieses Übergewicht wird mit Tränen aufgewogen.